Bruce Springsteen - Only the strong survive - Plattentests.de-Rezension (2024)

Soulmate

"Hey, Western Union man, send a telegram to my baby." Bruce Springsteens 21. Studioalbum mag zwar 2022 erscheinen, fällt aber doch, wie vorangehende Zeile zeigt, aus der Zeit. "Telegram" referenziert natürlich nicht auf den Troll-Kanal für Verschwörungstheorien, Echsen-Menschen aus der Unterwelt und anderen Nonsens, sondern auf die Übermittlung einer Kurznachricht via Post- oder Telegrafenamt. Wie Twitter mit Postkarte und ohne Elon Musk. Gefühlt hat seit 40 Jahren niemand mehr ein Telegramm versendet, Western Union den Dienst tatsächlich aber erst 2006 eingestellt. Bei Jerry Butler, der den Song "Hey, Western Union man" 1968 veröffentlichte, sollte der Bote seinem "Baby" sagen, dass er sie sehr vermisst. Diese Nachricht hat Bestand. Denn Bruce Springsteen erneuert sie auf "Only the strong survive" bei seiner Cover-Version des Stücks.

"Only the strong survive", dessen Titeltrack ebenfalls von Jerry Butler stammt, markiert Springsteens erstes Fremdmaterial-umspannendes Album seit den "Seeger-Sessions". Naserümpfend unkte mancher Boss-Fan, er solle doch bitte bei Rock bleiben, statt in der Blütezeit des Soul zu wildern. Nun mag man die Notwendigkeit dieses Albums gerne hinterfragen, auch wenn musikalische Laien-Rätschläge bei einem 73-Jährigen in einer nunmehr 50 Jahre andauernden Karriere etwas anmaßend wirken. Aber ein Soul-Album ergibt durchaus Sinn. Die gemeinsame Liebe für den Sound von Stax oder Motown teilten Springsteen und E-Street-Band-Gitarrist Steven Van Zandt schon früh, was Letzterer bis heute auf Platten mit seinen Disciples Of Soul hemmungslos auslebt und Ersterer in seiner Diskografie mehr als aufblitzen hat lassen. Clarence Clemons, zu seinen Lebzeiten von Springsteen in den Messe-ähnlichen Momenten seiner Live-Shows gerne als "Minister of Soul" angepriesen, komplettierte mit seinem Saxofon den Sound der E Street Band. Und Springsteens Entertainer-Qualitäten sind nicht nur auf den Einfluss von Elvis Presley zurückzuführen, sondern auch auf jene schweißtreibenden Soul-Konzerte und spirituell zusammenschweißende Gospel-Gottesdienste. Kurzum: "Only the strong survive" braucht keine Rechtfertigung, wäre aber argumentativ – Vol. 2 ist bereits in Arbeit – dafür gewappnet.

Bruce Springsteen covert bei seinen Auftritten seit jeher mit Bedacht und großem Respekt vor dem Original. Zu seinen Stärken zählt, diesen Songs – gerne im Zusammenspiel mit der E Street Band – eine eigene Note zu verleihen. Man denke an die großartige Version von "Drift away", des auf "Only the strong survive" ebenfalls mit einem Song vertretenen Dobie Gray. Dieser Aspekt entfällt nahezu gänzlich auf dem vorliegenden Werk, das zu Beginn der Pandemie mit Go-To-Produzent Ron Aniello entstanden ist. Die Suche nach dem Feintuning der Adaptionen – etwa das Soulgrößen-Namedropping am Ende von "Soul days" – verspricht wenig Ertrag. Sie ist insofern auch etwas obsolet, als dass "Only the strong survive" als eigenständiges Ganzes sehr gut funktioniert und Springsteen den Interpretationsprozess vernachlässigte. Erstmals, gab er zu Protokoll, habe er seine Stimme ins Zentrum der Songs und des Albums stellen wollen.

Seine gesanglichen Künste hatte er in seiner Biografie eher heruntergespielt, dies im Zuge der Produktion von "Only the strong survive" jedoch lächelnd korrigiert: "My voice is badass." Die große Herausforderung der Konzentration auf die Vocal-Performance meistert Springsteen. Teils sogar mit beachtlichen Ergebnissen. Das Rampenlicht von "Do I love you (indeed I do)" genießt der 73-Jährige spürbar. In der Geschichte des The-Commodores-Klassikers "Nightshift" erinnert er äußerst überzeugend an Marvin Gaye und Jackie Wilson und die schmerzende Sehnsucht von "I forgot to be your lover" gerät schicht sensationell. Das raue, eruptive Element in Springsteens Stimme sticht in "7 rooms of gloom" hervor und wenn der Boss in "Turn back the hands of time" zu "Leaving would be the last thing on my mind" ansetzt, liegen die ersten Gedanken nicht bei Jimmy Ruffin. Keine Selbstverständlichkeit, wie das recht käsig geratene "What becomes of the brokenhearted" vom gleichen Interpreten wenige Spielminuten später untermauert.

Auch wenn "Only the strong survive" aus Fremdmaterial besteht, lassen sich Querverweise zum eigenen Schaffen ziehen, die über die Namensgleichheit eines Tracks wie "Someday we'll be together" – veröffentlicht auf "The promise" – hinausgehen. Gemeinsam mit Sam Moore (Sam & Dave) lehnt sich der Sänger so genussvoll in die Silben von "Soul days" wie in die Sitze des dort erwähnten Chevrolets. Springsteen und Autos: Das ist Wohlfühlterrain auf mehreren Ebenen. Seine überzeugende Version von "The sun ain't gonna shine anymore" hätte auch gut die orchestrierte Grandezza von "Western stars" ergänzt und muss sich keineswegs hinter Frankie Valli oder der bekanntesten Version von The Walker Brothers verstecken. Und man kann sich auch vorstellen, dass "Don't play that song" genau an dem Fleckchen Erde läuft, zu der Springsteen 2002 auf "The rising" einlud: "Meet me at Mary's Place / We're gonna have a party." 2023 findet die Party zunächst in den Stadien dieser Welt statt. Dann geht Bruce Springsteen wieder auf Tour. Die Songs von "Only the strong survive" werden dann höchstwahrscheinlich keine Rolle spielen, ihr Fundament und Spirit durchaus.

(Stephan Müller)

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